Gestern habe ich die Prospekte der Kandidaten mit der Einladung zur Wahl per Post bekommen. Es gibt Fortschritte. Beim letzten Mal hatte ich den Brief erst am Donnerstag vor der Wahl bekommen.
Ich schaue mir die Prospekte der Kandidaten an. Das geht heute nicht sehr konzentriert. Ich habe mich wegen Migräne krank melden müssen. Ein starker Wind weht seit gestern Abend und ich habe mich schon beim Aufwachen nicht gut gefühlt. Wie beim letzten Mal. Noch geht es, halbwegs, ich kann nur nicht lange am Stück den Bildschirm gucken und alles dauert länger. Für Programmierarbeit ist es aus meiner Erfahrung sinnlos, in dem Zustand zu arbeiten. Wenn ich versuche, mich zu überwinden, kommt nichts Produktives raus und es wird im Laufe des Tages nur schlimmer. Vielleicht kann ich durch eine frühe Krankmeldung Schlimmeres verhindern, anstatt zu verharren, bis ich wirklich nicht mehr kann. Es scheint zu klappen. Ich schreibe also. Langsam und peu à peu. Ob was Kohärentes dabei raus kommt?

Auffällig in den Prospekten ist, wie zersplittert die französische Linke ist. Mindestens vier Kandidaten haben Punkte in ihren Programmen, die sich entweder sehr ähnlich sind oder gut ergänzen würden, sie klauen sich gegenseitig Stichwörter, aber zusammen wollten sie nicht kandidieren. Das führt dazu, dass in den Umfragen kein der Kandidaten auf 4% der Stimmabsichten kommt, beginnend bei 0,5%[1]. Dass man mit so wenig Unterstützung zur Wahl zugelassen wird… Anstatt jeder für sich alleine in die Bedeutungslosigkeit zu versinken, könnten diese kleinen Kandidaten zusammen auf 6,5% kommen. Das bleibt sehr wenig, ist aber schon mehr als die ökologische Partei, für die aktuell gerade 4,5% der Wähler stimmen würden. Und eine zusammengeschweisste Linke könnte mehr Stimmen als 6,5% bekommen, weil Leute weniger denken würden, umsonst für sie zu wählen, als für die ganz kleinen Parteien. Die meisten Stimmabsichten sammeln, leider unüberraschenderweise, die Rechtsextreme, gefolgt vom aktuellen Präsident.
Ich betrachte mein Land aus der Ferne, da ich jetzt die zweite Hälfte meines Lebens in Deutschland gelebt habe. Ich frage mich, wie konnte es so weit kommen? Ich hatte gehofft, dass Zemmour genug Wähler von Le Pen klauen würde, so dass keiner der Beiden es in die zweite Runde schafft. Es sieht doch nicht so aus. In den hiesigen Nachrichten wird Zemmour als noch rechtsextremer als Le Pen dargestellt. Aus meiner Jugenderinnerung hätte ich nie gedacht, dass so was möglich ist. Ein damals beliebter „Witz“ war, in den Neunzigern: „Wusstest du, dass Le Pen[2] arabisches Blut hat[3]?“ „Ach nee, im Ernst?“ oder ähnliches war die typische Reaktion der Gefragten. „Ja, auf seiner Stoßstange“. Nicht gerade feinfühlig, aber es beschrieb gut den Typ und wie er in der Bevölkerung wahrgenommen wurde. Dass jetzt jemand als rechtsextremer gilt, geht doch, weil Le Pen[4] in den letzten Jahren den Ton gemäßigt hat und die Partei nach einem Namenswechsel mehr in Richtung traditioneller Rechte gerückt hat. Die ausländerfeindliche Lücke füllt jetzt Zemmour, mit 10% der Stimmabsichten. Und dass die Nachrichten vor einigen Jahren darüber berichtet hatten, wie Le Pen und andere europäische anti-europäische[5] rechtsextreme Parteiführer Geld vom Kreml angenommen hatten, juckt scheinbar niemanden unter den Wählern.
Wie meine Wahl ausfällt, bleibt noch zu sehen. Durch eine Doku auf Arte über das Prekariat in Frankreich, „Abschied von der Mittelschicht“[6], wurde mir bewusst, wie sehr sich die Bedingungen in den letzten Jahren für Arbeitnehmer verschlechtert haben. In der zweiten Wahlrunde wird es sowieso sicherlich nur eine Möglichkeit für mich geben, egal wie ich mich jetzt entscheide.
[1] Die Zahlen ändern sich ständig, weil die Umfragewerte sich ständig ändern.
[2] Der Vater der aktuellen Le Pen war gemeint.
[3] Das ist sicherlich schlecht ins Deutsche übersetzt, steht aber eins zu eins für die französische Version. Was man in Frankreich üblicherweise unter der Redewendung impliziert ist, dass „in seinen Adern arabisches Blut fließt“. Aber so ausgedrückt würde der übersetzte „Witz“ keinen Sinn mehr machen.
[4] Die Tochter.
[5] Nee, kein Typo.
[6] Ich verlinke schon lange keine Arte Doku mehr, weil sie ihre Videos ständig hochladen, löschen, neu hochladen und Links dadurch nicht dauerhaft gültig bleiben.
Dieser Beitrag ist ursprünglich auf Meckereien & Co. erschienen.