Morgen gehen wir für die zweite Runde zur Urne.
Mit „wir“ möchte ich meine ganzen Mitbürger auf der Welt meinen, aber so einfach ist es nicht. Haben vor zwei Wochen fast 74% der Franzosen ihre Stimmen abgegeben, waren es gerade 35% bei denen, die im Ausland leben (1 435 746 registrierte Wahlberechtigte gibt es außerhalb Frankreichs). In Deutschland, wo wir den Luxus haben, sechs Konsulate zur Verfügung zu haben, konnten 42% der Wähler ihre Stimme abgeben. Wählen ist im Ausland nicht einfach, wenn man bedenkt, dass wir die Möglichkeit zur Briefwahl gar nicht angeboten bekommen. Für mich unverständlich, da die Möglichkeit für die Législatives besteht, für die man sogar online wählen kann. Das wird für die Présidentielles als nicht sicher genug gehalten. Franzosen im Ausland haben morgen, wie vor zwei Wochen, die Wahl zwischen selber zum Konsulat zu fahren, oder eine vertraute Person französischer Staatsbürgerschaft zu beauftragen, für sich wählen zu gehen. Wenn Corona nicht einen Strich durch die Rechnung macht. Oder man geht gar nicht wählen, wenn man niemanden kennt und kein Geld oder Zeit für eine Fahrt hat. Wer zum Beispiel in Erfurt lebt braucht schon zwei Stunden Zug zum nächstgelegenen Konsulat in Berlin. Hin.
In meinem letzten Beitrag zum Thema hatte ich Prognosen für die Wahl angegeben. Die Webseite, aus der ich die Daten hatte, zeigt jetzt ganz andere Sachen, unter anderen einen Zeitverlauf der täglichen Wahlprognose während des ganzen Wahlkampfes bis zur ersten Wahl. Es war ein Leichtes, an die Daten zu kommen und selber meine eigene Graphik mit R zu machen. Einfach so zum Spaß, weil ich in letzter Zeit bei (zu) vielen MOOCs mitmache und mich für Datenanalyse interessiere. Einen Kurs über R hatte ich schon vor einigen Jahren gemacht, ich habe meine Kenntnisse ausgegraben und die Entwicklung der Wahlprognose unten schön bunt dargestellt. Nicht für alle Kandidaten. Die, die dauerhaft unter 5% lagen, habe ich ausgelassen. Die letzten Punkte in der Graphik zeigen die Wahlergebnisse. Sie liegen meistens ganz nah an der Prognose.
Die Entwicklung finde ich interessant. Zum einem sieht man eine klare Verlaufsänderung seit dem Angriff von Russland auf die Ukraine. Die Prognose für Macron (gelb) war die ganze Zeit davor konstant bei 25% geblieben, ab dem 24.02., mit einer vertikalen schwarzen Linie dargestellt, sind seine Werte nach oben geschossen. Zum Höhepunkt der Entwicklung hatten sogar 31,5% der Befragten angegeben, für ihn wählen zu wollen. Und dann ist die Prognose stetig gefallen. Ich habe die Debatten in Frankreich nicht mitbekommen und weiß nicht, woran es liegen könnte. Auffällig ist auch, wie Zemmour (grau) sich bis zum Niveau von Le Pen (hellblau) hoch gearbeitet hatte, um dann nach dem Anfang des Krieges fast spiegelverkehrt zu Le Pen Stimmabsichten zu verlieren. Haben sie sich abgesprochen, um wenigstens eine der ausländerfeindlichen Parteien zur zweiten Runde kommen zu lassen? Wären sie mit gleicher Prognose so weiter gegangen, wären sie von Mélenchon (violett) überholt worden. Mélenchon, ein der vielen Politikern aus der zerrissenen Linke, der am Anfang der Kampagne nicht mal auf 10% kam, war für mich von vorne rein wegen seiner anti-europäischen Haltung ausgeschloßen. Seine Gegenkandidatin aus der Partei von Sarkozy, Pécresse (rot), hatte gleich stark wie Le Pen angefangen, um am Ende in den Keller der Wahlergebnissen zu sinken. Zwischen ihr und Mélenchon sieht man auch ein spiegelverkehrtes Verhalten seit dem Ausbruch vom Krieg. Kausalität oder blosse Korrelation? Der Knick von Mélenchon nach oben am Tag der Wahl entspricht ziemlich genau dem Knick nach unten von Pécresse. Le Pen und Mélenchon, beide Anti-Europäer, haben seit Ende Februar den gleichen Zuwachs bekommen. Können die Wähler nicht einsehen, dass man gemeinsam in der EU stark bleiben kann, aber jeder getrennt für sich allein leichte Beute ist?
Aus den Prognosenentwicklungen habe ich mir die Korrelationsmatrizen zwischen den Kandidaten rechnen lassen, unten links vor dem Krieg, in der Mitte seit dem Krieg, rechts während der gesamten Wahlkampagne. Die dicken blauen Punkte auf der Diagonale von oben links nach unten rechts zeigen die Eigenkorrelationen, die mathematisch nur 1 sein können. Korrelationen zeigen die lineare Abhängigkeit zwischen zwei Größen und können Werte zwischen -1 und 1 annehmen. Bei einer Korrelation von 0 gibt es keine lineare Abhängigkeit. Man denkt häufig, dass es bedeutet, dass die Größen dann unabhängig voneinander sind, aber das stimmt auch nicht immer. In den Graphiken unten sind positive Korrelationen in blau dargestellt, negative Korrelationen sind rot. Je dunkler die Farbe und je größer der Kreis, desto höher der absolute Betrag. Man erkennt ganz gut die Verhalten, die ich oben beschrieben habe. Zum Beispiel, die Tatsache, das Le Pen und Mélenchon seit dem Krieg einen ähnlichen Zuwachs bekommen haben, zeigt sich im dicken blauen Punkt. Gleichzeitig zeigt der dunkelrote Punkt zwichen Le Pen und Zemmour dass ihre Prognoseverläufe gegeneinander laufen: Während Le Pen an Stimmabsichten gewonnen hat, hat Zemmour quasi gleich viele Stimmabsichten verloren. Die Überraschung: Die mäßige positive Korrelation zwischen Macron und Jadot seit dem Krieg. Der grüne Kandidat war die ganze Zeit bei 5% geblieben, aus den Kurven erkennt man so keinen Zusammenhang.
Aktuell wird für Macron 55% der Stimmen vorausgesagt, gegen 45% für Le Pen. Es sieht wie ein bitterer Sieg aus. Natürlich werde ich für Macron stimmen, die Alternative will ich mir nicht vorstellen. Aber jetzt bekennen sich fast die Hälfte der Wähler unter meiner Landsleute offen für Ausländerfeindlichkeit. Das ist erschreckend. Warum soll ich mich mit diesem Land weiter identifizieren? Wir waren doch so knapp dabei, mit 1,2% Unterschied Le Pen aus der zweiten Runde raus zu schmeißen! Hätten mehr Franzosen aus dem Ausland gewählt, wäre es Realität geworden. Das Wahlverhalten der Franzosen außerhalb Frankreichs ist ein ganz Anderes.
Ich bin überzeugt, Briefwahl hätte den Ausgang der ersten Runde anders aussehen lassen können. Mit der Gefahr für die EU, danach Mélenchon als Präsident zu bekommen.
[1] Daten aus https://fr.wikipedia.org/wiki/%C3%89lection_pr%C3%A9sidentielle_fran%C3%A7aise_de_2022 (am 23.04.2022).
[2] Daten aus https://www.resultats-elections.interieur.gouv.fr/presidentielle-2022/000/099/index.html (am 23.04.2022).
Dieser Beitrag ist ursprünglich auf Meckereien & Co. erschienen.