Am Sonntag war geplant, dass wir die Urne mit den Aschen von meinem Bruder zum Friedhof bringen. Sie war seit der Einäscherung in der Obhut meiner Mami geblieben.
Es wurde seit dem Anfang der Woche diskutiert, ob unser Département am Wochenende eine Ausgangssperre aufgehängt bekommen soll. Zum Glück ist dies nicht geschehen. Wir bleiben unter Beobachtung und müssen nur, wie auch überall in Frankreich, ab 18:00 zu Hause bleiben. Das ist hart. Ich arbeite den ganzen Tag bei meiner Mami und wenn ich Feierabend mache, ist es zu spät, um raus zu gehen. Es gibt viel zu tun. Mittags schaffe ich es nicht häufig, eine Pause einzulegen. Ich könnte um halb acht anfangen zu arbeiten, aber ich bin nicht sicher, ob ich dann tatsächlich früher Feierabend machen würde.
Bianca, die Freundin von meinem Bruder, ist am Freitag vor 18:00 zu uns gekommen. Sie wohnt in dem Haus, das mein Bruder gekauft hatte, in den benachbarten Alpes Maritimes, und dort herrscht Ausgangssperre am Wochenende. Meine Schwester konnte mit ihrem Sohn am Samstag kommen. Sie arbeitet nachtsüber für einen großen Versandkonzern (für den ich keine Werbung machen will), da ihr am Anfang der Pandemie gekündigt wurde. Das Umverpacken von Waren aus beschädigten Paketen vor dem Versand ist leider alles, was sie seitdem finden konnte. Das liegt deutlich unter ihrer Qualifikation, aber die Familie will ernährt werden und ihr Freund verdient nicht viel, seit der Pandemie.
Der Neffe wirkt wie ein kleiner Sturm. Keine Sekunde Ruhe. Mich hat er ewig nicht mehr gesehen, und ich wurde auserwählt, um mit ihm zu spielen. Er hat von seiner Tante Bianca einen aufblasbaren Schwert mit Schild bekommen und hat sich als Ritter erklärt. Ich war ein Tiger, musste auf allen vieren kriechen bis er mich mit dem Schwert getötet hat, um auf den Boden zu fallen und wieder erweckt zu werden, wodurch das Ganze wieder anfing. Über eine Stunde lang. Ich bin am Sonntag mit Muskelkater aufgewacht.
Am Sonntag, also gestern, ist der Neffe früh aufgewacht. Bianca hat ihn zur Toilette gebracht, als seine Mutter noch schlief. Meine Mami hat ihm Frühstück gemacht, und ich habe ihn zum Spielplatz gebracht, damit meine Schwester ihre Ruhe hat. Er wollte zum Spielplatz gehen, oder besser gesagt, rennen. Unterwegs hieß es dann, er wolle zur Buchhandlung, die aber geschlossen war. Er wusste nicht, dass es Sonntag war. Weiter auf dem Weg mussten wir im großen Brunnen vor der Kirche nach Fischen suchen. Es gab keine, dafür hatte jemand Steine bunt bemalt und trocken in der Mitte vom Brunnen platziert, ich musste den Neffen heben, damit er sie sehen konnte. Nach dem Brunnen kam der Platz, auf dem unter den Platanen Boules gespielt wird. Dort hat er angefangen, mit dem Sand zu spielen. Hinweise, dass der Spielplatz sich direkt neben dem Platz befindet, wurden ignoriert. Er wollte nicht mehr hin. Wir haben uns auf dem Platz gejagt. Irgendwann hatte ich ihn in die Nähe vom Spielplatz gebracht, wo er sehen konnte, dass ein Junge alleine spielte, während die Eltern mit dem jüngeren Geschwister auf einer Bank saßen. Er fragte mich, warum der Junge alleine spielen würde. „Weil du nicht dort bist“, habe ich ihm gesagt, und dann ist er doch die kleine Treppe zum Spielplatz herunter gelaufen. Endlich. Eine halbe Stunde nachdem wir das Haus verlassen hatten, wo man sonst keine fünf Minuten braucht. Es gab schöne Schaukeln und Rutschen, der Spielplatz wurde nicht lange her neu gemacht, aber die große Attraktion war ein kleiner Olivenbaum voll mit schwarzen Früchten. Der Junge kletterte gekonnt den Baum rauf und runter, dem Neffen musste geholfen werden und ich habe ihm erklärt, wo er greifen soll. Es klappte trotzdem nicht so gut und ich habe ihn hoch gehoben, damit er Oliven pflückt. Der Junge, den ich ein Jahr älter schätze, ist danach nochmal in den Baum geklettert und hat dem Neffen noch mehr Oliven gebracht. Das war richtig süß.
Der Rückweg nach Hause verlief so schwer wie der Weg zum Spielplatz. Er wollte nicht hin, und nur seine Durst hat geholfen, pünktlich zu sein, um wieder sauber zu werden und meine Schwester zu wecken, bevor wir zum Friedhof gegangen sind. Unterwegs hat er nach seinem Onkel gefragt und war verwirrt, als meine Schwester sagte, er wäre in der Box die Tante Bianca trug. Der Onkel wäre zu groß, ob er zusammen gerollt war? Er wusste schon, dass sein Onkel gestorben ist, aber wie erklärt man Einäscherung einem Vierjährigen? Ich habe meine Schwester antworten lassen, sie hat aber nichts darüber erzählt. Bestimmt später.
Am Friedhof haben wir meinen Vater und seine Freundin getroffen. Mein Vater hat seinen Enkel zum ersten Mal gesehen. Ich weiß, dass meine Schwester keinen Kontakt zu ihm haben will, aber sie hat nie erzählt warum. Das wundert mich, da er sie als Kind vergöttert hatte. Ich war die Enttäuschung, kein Junge zu sein, meine Schwester anfangs auch, aber ich alleine habe die Schläge und die Erniedrigungen bekommen, die Beiden haben vieles zusammen unternommen. Ich frage mich, was passiert ist, nachdem ich das Elternhaus verlassen habe. Ich bin früh gegangen, zuerst nur zeitweise, als ich mit vierzehn in die Oberstufe kam und unter der Woche im Internat bleiben durfte, dann, endgültig mit siebzehn, als ich mit dem ersten Freund umgezogen bin, weil ich es zu Hause nicht mehr ertrug. Hatte mein Vater in meiner jüngeren Schwester sein nächstes Opfer gefunden? Das Treffen mit ihm war kurzer Dauer. Nach dem Friedhofbesuch ist mein Vater mit seiner Freundin weg gefahren, wir sind zurück zu meiner Mami gelaufen.
Zu Hause wollte der Neffe wieder Ritter spielen. Ich war platt und habe ihm stattdessen meine billige Gitarre gezeigt, die ich hier gekauft habe, für die Zeit, die ich bei meiner Mami bleibe. Er war begeistert, hat alle seine Spielzeuge vergessen und neben mir auf meinem Bett nur noch Lieder gesungen und irgendwie an die Saiten gezupft.
Am frühen Nachmittag sind Bianca, meine Schwester und ihr Sohn weg gefahren, um vor 18:00 zu Hause zu sein. Ich war klebrig, meine Kleider dreckig, nachdem ich den Neffen nach Streitereien dazu gebracht hatte, sich die Zähne zu putzen. Geduscht, umgezogen, und auf der Couch bis sechs geschlafen. Bin ich doch froh, selber keine Kinder zu haben.
Nach dem Aufwachen habe ich dumpfe Kopfschmerze in der linken Schläfe gespürt. Um zehn war ich im Bett.
Um drei weckt mich ein lautes Miauen, und kurz danach höre ich den Gummiball vom Kater die Treppe zur Küche runter laufen. Stimmt, sein Lieblingsspiel. Das kann er richtig lange machen, Ball runter, in die Küche holen und wieder hoch tragen, und er miaut immer ganz laut, bevor er den Ball fallen lässt. Aber echt, muss es um drei Uhr morgens sein? Ich stehe auf, gehe zur Toilette, bringe die leere Klopapierrolle zum Papiermüll in die Küche, finde den Ball neben der Waschmaschine, hebe den und verstecke ihn unter meinem Kopfkissen im Bett. Nach einer kurzen Weile miaut der Kater wieder. Meine Mami wird wach und ruft ihn zu ihr. Ruhe kehrt wieder ein. Ich kann nicht mehr schlafen. Wenigstens ist die Migräne weg.

Dieser Beitrag ist ursprünglich auf Meckereien & Co. erschienen.
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