Wir hatten geplant, Weihnachten in Berlin zu verbringen, um den Schwiegervater aus dem Heim zu holen und mit ihm ein paar Tage zu verbringen, nachdem wir Quarantäne einhalten und uns testen lassen. Die Testergebnisse hat der Ehemann in seine App geladen, da die Corona-Warn-App für mein Handy nicht verfügbar ist. So alt ist mein Handy nicht, gerade zwei Jahre, und ich gehöre nicht zu den Suchtkonsumenten, die funktionierende Geräte entsorgen, nur weil ein Neueres auf den Markt kommt. Ein neues Handy für diese App zu kaufen kam für mich daher nicht in Frage. Vor allem, da ich zu Hause arbeite und wenn ich das Haus verlasse, dann überwiegend mit dem Ehemann. Eine App für uns beide muss reichen. Der Ehemann hat sein Test geladen, negativ. Er musste dann sein Test löschen, um mein Test auch zu laden. Ebenfalls negativ. Das war am Samstag.
Unser Plan für Weihnachten wird trotzdem nichts. Wir sind stattdessen in Frankfurt, bei der jetzt engsten Familie vom Ehemann. Der Schwiegervater ist am Anfang des Monates verstorben, und so schnell konnte ich nicht darüber schreiben. Das muss man erstmal verdauen.
Ich sage, Corona ist schuld. Es gab im November einen Fall im Heim. Alle Bewohner wurden dazu aufgefordert, ihre Zimmer nicht mehr zu verlassen, und Besuche wurden verboten. Den Schwiegervater hat es sehr getroffen. Infiziert hat er sich nicht, aber die Ausgangssperre wurde ihm zu viel, vor allem, als sie verlängert wurde, als ein zweiter Fall bekannt wurde. Er hat angefangen, nicht mehr essen zu wollen, und sich geweigert, seine Medikamente zu nehmen. Das Heim hat den Ehemann angerufen, der Ehemann hat mit seinem Vater telefoniert und dachte, er hätte ihn dazu überredet, wieder auf sich zu achten. Aber dann hat der Schwiegervater seine Anrufe nicht mehr angenommen. An dem letzten Sonntag von November wurde der Ehemann so unruhig, dass er auf die Stelle nach Berlin fahren wollte. „Und was dann?“ hatte ich ihn gefragt. Wenn Besuche verboten sind, kommt er nicht ins Heim, egal, was er versucht, den Mitarbeitern zu erzählen. Der Ehemann ist zu Hause geblieben. Sein Vater hat weiterhin keine Anrufe angenommen. Zwei Tage später ist der Ehemann vom Heim angerufen worden. Sein Vater ist friedlich im Schlaf gestorben.
Wir sind nach der Meldung nach Berlin gefahren. Der Ehemann hat auf einmal viel zu regeln gehabt, da er Einzelkind und jetzt Waise ist. Natürlich konnte ich ihn in der Zeit nicht alleine lassen, und Tim, unser neuer Teamleiter seit dem Sommer, war sehr verständnisvoll und hat mich von der Arbeit befreit. Es gab eine kleine Trauerfeier im engsten Kreis. Auf dem Weg zum Bestattungsinstitut war ich richtig froh, dass der Ehemann sich nicht für die Konkurrenz einige Häuser vorher entschieden hat. Wir sind von der S-Bahn-Station aus zu Fuß dahin gelaufen, und ich habe zuerst gedacht, wir wären an eine billige Fahrschule vorbei gelatscht. Nee, es war ein Bestattungsdiscounter und sah furchtbar aus. Der Ehemann hatte sich für die andere Firma entschieden, weil der Name ihm bekannt vorkam. Er hatte nicht mal Zeit, sich über sie richtig zu informieren. Glück gehabt, vor allem, weil der Discounter den selben Namen wie die Bowling-Lounge[1] trägt, wo der Ehemann sonst mit seinen Kumpeln Geburtstag feiert, er hätte auch sagen können, dieser Name kommt ihm bekannt vor. Wenigstens konnten wir uns von dem Schwiegervater in Würde verabschieden. Das Gefühl hätte ich beim Discounter nicht gehabt.
Der Ehemann gibt den Anschein, es gehe ihm gut. Ich weiß aber, wie schlecht er in letzter Zeit schläft und was für unruhige Träume er hat. Er hat sich am Anfang schuldig gefühlt, dass er sich bei der Nachricht vom Tod seines Vaters nicht nur traurig, sondern auch erleichtert gefühlt hat. Er hat gesehen, wie es dem Schwiegervater schlechter wurde, und es gab keinen Anlass zu glauben, dass sein Zustand sich verbessern würde. Seit dem Schlaganfall wurde seine Aphasie wegen den Corona-Beschränkungen nicht richtig behandelt, und man hat gemerkt, dass es ihn sehr frustriert hat, nicht mehr reden zu können. Lesen konnte er auch nicht mehr. Am Telefon hat er in letzter Zeit viel zu schnell aufgegeben, wenn ihm ein Wort nicht mehr eingefallen ist. Wie wert ist ein Leben, wenn man nicht mehr in der Lage ist, mit anderen Menschen zu kommunizieren? Wenn man sich ständig vom Pflegepersonal missverstanden fühlt und seine Wünsche nicht mehr äußern kann? Der Ehemann hatte seinen Vater verstanden, aber das reicht nicht. Er hat sich jetzt eingeredet, dass sein Vater beschlossen hat, aus dem Leben auszutreten.
Ich frage mich, würde ich in einem solchen Zustand leben wollen? Ich habe dem Ehemann schon gesagt, dass ich mich for Demenz graue. Lieber würde ich eine assistierte Sterbehilfe in Anspruch nehmen, als jahrelang vor mich hin zu vegetieren. Die Unfähigkeit, sich auszudrücken, selbst mit klarem Kopf, möchte ich auch nicht erleben. Nicht auf Dauer. Da wird man nur noch hilflos für jede Art von Missbrauch ausgeliefert, denn wie sollte man sich darüber beschweren können? Deswegen hatte ich mich so viele Sorgen gemacht, als ich im relativ späten Alter mal länger schwanger wurde.
Ob der Schwiegervater also absichtlich gestorben ist? Eine solche Entscheidung könnte ich nachvollziehen, aber kann das einfach so im Schlaf passieren, wenn man sich dafür entschieden hat? Schön wär’s.
[1] Unbezahlte Werbung, da Verlinkung.

Dieser Beitrag ist ursprünglich auf Meckereien & Co. erschienen.
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